D. Saxer: Schärfung des Quellenblicks

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Titel
Die Schärfung des Quellenblicks. Forschungspraktiken in der Geschichtswissenschaft 1840–1914


Autor(en)
Saxer, Daniela
Reihe
Ordnungssysteme 37
Erschienen
München 2014: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
459 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Henning Trüper, Helsinki Collegium for Advanced Studies, University of Helsinki

Daniela Saxers Dissertation entstand aus dem Impuls, in der Geschichte der Geschichtswissenschaft eine Perspektive auf epistemische Praxis zu etablieren, die einerseits Entwicklungen in den Fachdiskussionen der Wissenschaftsgeschichte für den geisteswissenschaftlichen Bereich nachvollziehen, andererseits aber auch zu diesen Diskussionen einen genuinen Beitrag leisten sollte. Gebrochen werden sollte mit einer Historiographie, die sich überwiegend als fachinterne Ideen-, Ideologie- und Institutionengeschichte darstellte. Die Praxeologie sollte eine Historisierung des historischen Wissens selbst ermöglichen. Geleistet werden sollte diese Historisierung durch Untersuchung der Abhängigkeiten des historischen Wissens von Medien, alltäglichen Arbeitsprozessen, verstreuten Materialien sowie vielfältigen Formen von Soziabilität, die älteren wissenschaftssoziologischen Perspektiven geradezu systematisch entgangen waren.

In Form einer synthetischen Arbeit lässt sich ein solches Forschungsprogramm kaum einlösen, wie auch andere mittlerweile erschienene Arbeiten – die Saxer leider nur noch zum Teil auswerten konnte – gezeigt haben. Das Programm erfordert einen detailgenauen Ansatz, der auch in der Lage sein muss, die biographische Gebundenheit historischer Forschung zu erfassen. Saxers Untertitel ist daher etwas ungenau; die Arbeit ist weniger auf «die» Geschichtswissenschaft insgesamt zugeschnitten als vielmehr auf konkrete institutionelle und forschungspraktische Zusammenhänge des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung (IÖG) einerseits, des Schweizerischen Urkundenregisters und des Historischen Seminars der Universität Zürich andererseits. Die Anlage ist die eines nicht durchgängig formalisierten Vergleichs. In den Kapiteln des ersten Teils, die sich vor allem der «hilfswissenschaftlichen» Professionalisierung der Mediävistik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts widmen, werden die österreichischen und schweizerischen Entwicklungen jeweils kontrastiert. Dagegen steht in den Fallstudien, die den zweiten Teil des Buchs ausmachen, jeweils einer der beiden Kontexte im Vordergrund. Bis auf weiteres übersteigt die Komplexität der praxeologischen Perspektive die Möglichkeiten eines kontrollierten sozialwissenschaftlichen Vergleichs. Die Veränderungen, die der Ansatz in der Sicht auf Historiographie als Feld einfordert, sind keineswegs trivial.

Im ersten Kapitel werden die «Agenturen» der historischen Forschung eingeführt, im zweiten die Formen der disziplinären Vermittlung von Forschung in Wien und Zürich. Hier finden sich auch Überlegungen zur thematischen Ausdifferenzierung des historischen Wissens, zum Beispiel im Zusammenhang mit kultur- und wirtschaftsgeschichtlichen Forschungsströmungen im 19. Jahrhundert. Das dritte Kapitel greift die von Daston und Sibum eingeführte Begrifflichkeit der «wissenschaftlichen Persona» auf, das heisst der sozialen Gestaltung wissenschaftlicher Subjektivität, die das Fundament bildet, auf dem Saxers Neologismus des «Quellenblicks» aufbaut. Dieser Begriff bezeichnet ein Ensemble disziplinär eingeübter Lektüretechniken, die sich zu einer normativ aufgeladenen emotionalen und intuitiven Disposition zur Beurteilung der Dokumente verdichteten. Das vierte Kapitel diskutiert Familie und Geschlecht als vernachlässigte wissenschaftssoziologische Komponenten und forschungsökonomische Ressourcen der Historiographie (Verwandtschaft, familiäre Vererbung von Nachlässen, Mitarbeit von Ehefrauen). Es folgen drei Fallstudien zu den «Sammlungspraktiken » des Schweizerischen Urkundenregisters (Kap. 5), zur photographischen Reproduktion mittelalterlicher Urkunden am IÖG (Kap. 6) und zur diplomatischen Editionspraxis ebenda (Kap. 7).

Unter den Bestandteilen der Praxis historischer Forschung gibt die Untersuchung durchgehend Archiv und Quelle den Vorzug, also dem Material der Forschung, das aus Sicht der Arbeit tendenziell als wichtigste Determinante der Praxis fungiert. Alle untersuchten Praktiken basieren auf der Zirkulation und Manipulation materialer historischer Dokumente, was nahelegt, dass für Saxer der Prozess des eigentlichen Schreibens von Geschichte erstens nachgängig und zweitens nachrangig, weil epistemologisch weniger problematisch ist. Auf diese Weise entsteht eine konzeptionelle Lücke, deren Umriss erstaunlicherweise der materialdeterministischen Sicht auf das historische Wissen, die für das methodologische Selbstbild der untersuchten Historiker des 19. Jahrhunderts charakteristisch war, recht genau entspricht. Problematisch ist ausserdem eine gewisse Unschärfe in der praxeologischen Ausrichtung der Arbeit, in der zwar nicht konzeptionell, wohl aber dem Aufbau des Arguments nach der Wissenschaftssoziologie ein Primat vor der Analyse frei zirkulierender wissenschaftlicher Subjekte und Objekte in der Arbeitssituation eingeräumt wird. Die zentrale argumentative Funktion des «Blicks» auf die Quelle – im Sinn einer sozial konstituierten Subjektivität – verstetigt diese Unschärfe noch.

Diese kritischen Anmerkungen sollen aber die Verdienste von Saxers Studie keineswegs schmälern. Die Untersuchungen über die Persona des Historikers leisten einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der sozialen Herstellung von Objektivität in der Geschichtswissenschaft. Herausragend ist aus praxishistorischer Sicht das Kapitel zu den photographischen Urkundenreproduktionen, das dazu einlädt, über die Material- und Mediengeschichte der Kopier- und Vervielfältigungsverfahren weiter nachzudenken. Ein solches Nachdenken würde gewiss auch die interdisziplinäre Lage der historischen Epistemologie der Geisteswissenschaften im 19. Jahrhundert noch stärker herausstellen, wie sie sich etwa in dem von Saxer nur knapp angeschnittenen philologischen Studium Theodor Sickels bei Karl Lachmann andeutet.

Zitierweise:
Henning Trüper: Rezension zu: Daniela Saxer, Die Schärfung des Quellenblicks. Forschungspraktiken in der Geschichtswissenschaft 1840–1914, München: Oldenbourg, 2014. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 2, 2017, S. 282-283.